Christopher Clark: „Endphase der Nationalstaaten kann ebenso krisenhafte Situation schaffen wie deren Aufstieg“

Symposium „Schicksalsgemeinschaft“ der Stiftungen der Sparkasse Leipzig befragte Europas Vergangenheit nach Lehren für Gegenwart und Zukunft

Leipzig, der 20. Oktober 2018. Mit einem Symposium zum 100. Jahrestag des Endes des Ersten Weltkriegs wurde am heutigen Samstag die Veranstaltung „Schicksalsgemeinschaft“ der Stiftungen der Sparkasse Leipzig fortgesetzt. Ziel war es, in Vorträgen und einer Podiumsdiskussion gemeinsam mit den Historikern Prof. Sir Christopher Clark und Prof. Sönke Neitzel, dem Politikwissenschaftler Prof. Herfried Münkler sowie den Zeitzeugen Walburga Gräfin Douglas und Konrad Adenauer die europäische Geschichte nach Auskünften für die Gegenwart und Zukunft der europäischen Idee zu befragen.

„Wir finden uns nach 50 Jahren der Europäisierung derzeit vielleicht in einer Endphase der Nationalstaaten, die genauso schwierig und krisenhaft sein kann wie deren Aufstieg vor über 100 Jahren“, erklärte Sir Christopher Clark, Regius Professor of History an der University of Cambridge. Dies hänge auch damit zusammen, dass es derzeit ein nur wenig ausgeprägtes Bewusstsein von einer gemeinsamen europäischen Geschichte gebe. „In vielen Ländern sind die nationalstaatlichen Geschichtserzählungen deutlich präsenter“, so Clark während der von Andreas Platthaus (F.A.Z.) moderierten Podiumsdiskussion. In seiner Keynote für das Symposium hatte er gemahnt: „Wer sich mit Geschichte beschäftigt, kann gefährliche Zwangssituationen rechtzeitig erkennen oder ihnen sogar entkommen.“

Ähnlich argumentierte auch Sönke Neitzel, Universität Potsdam, in seinem Vortrag „Der II. Weltkrieg im europäischen Gedächtnis“: Für viele Länder sei es nach dem Ende des II. Weltkrieges darum gegangen, eine „Meistererzählung“ von der Geschichte zu finden, „die nicht schmerzt, sondern hilft, Schmerzen zu lindern.“ Die unterschiedlichen Meisterzählungen haben Neitzel zufolge „sozialen Sinn“ für die Nationalstaaten und das Finden einer Identität – er forderte deshalb dazu auf, sich um ein stärkeres Verständnis für die Logik anderer Geschichtsschreibungen zu bemühen: „Wir müssen uns einen differenzierteren Diskurs zutrauen und uns trauen, unsere Geschichte häufiger in Grautönen zu betrachten.“

Herfried Münkler, Humboldt-Universität zu Berlin, legte dar, wie sich in jüngerer Zeit politische Entwicklungen der binären Logik der „westfälischen Ordnung“ nach dem Ende des 30-jährigen Krieges entziehen: Immer häufiger gäbe es nicht mehr die Polarität von Krieg oder Frieden, von Kombatant oder Nicht-Kombatant, von zwischenstaatlichem Konflikt oder Bürgerkrieg. „Wir können aus der Beschäftigung mit Kriegen vom Typ 30-jähriger Krieg für heute mehr lernen als aus klassischen zwischenstaatlichen Kriegen“, erläuterte er. Daraus seien auch strategische Überlegungen für das Projekt Europa abzuleiten. So brauche Europa eigenständige Technologien inklusive den dafür notwendigen Produktionskapazitäten, um sich beispielsweise im Cyber-War erwehren zu können, eine Aufgabe, die ein einzelner Nationalstaat nicht leisten könne: „Die Idee von Europa erlegt Politikern und Wählern gleichermaßen auf, großräumig und langfristig zu denken und rational zu handeln“, machte Münkler deutlich.

Walburga Gräfin Douglas, die 1989 gemeinsam mit ihrem Vater das „Paneuropäischen Picknick“ an der ungarisch-österreichischen Grenze organisiert hatte, erinnerte an die große Anziehungskraft, die die europäische Idee vor 30 Jahren, mit dem Fall des Eisernen Vorhangs, entwickeln konnte: „Alle Menschen konnten sehen, dass das sich einigende Westeuropa eine wirtschaftliche und freiheitliche Erfolgsgeschichte war“, erklärte sie. Dies forderte sie für die Gegenwart wieder stärker ein: „Die EU muss eine attraktive Kraft bleiben. Wir sollten im Hinterkopf weiter daran denken, Grenzen nicht zu verschieben, sondern Grenzen aufzulösen.“ Dafür müsse man vor allem in Zeiten zunehmender Nationalismen das ABC von Europa neu erzählen: „Und dabei müssen wir wieder bei A beginnen“, so Gräfin Douglas.

Konrad Adenauer, Jurist, Politiker und Enkelsohn des ersten deutschen Bundeskanzlers, zeichnete in seinem Vortrag am Beispiel der deutsch-französischen Beziehungen nach, wie eine europäische Annäherung gelingen kann: „Der Élysée-Vertrag von 1963 ist ein Muster für die Verständigung zwischen lange verfeindeten Völkern“, sagte er. Die Basis dafür seien geteilte humanistische Grundlagen und Werte zwischen Bundeskanzler Adenauer und dem französischen Präsidenten de Gaulle gewesen, erläuterte er. Zu einer gelingenden Geschichte der Annäherung habe aber auch gehört, „dass erste Anstöße für die Wiederaufnahme Deutschlands in die westliche Wertegemeinschaft“ aus Frankreich gekommen seien.

Eingeleitet wurde das Symposium durch Dr. Harald Langenfeld, Vorstand der Sparkasse Leipzig sowie der Medienstiftung der Sparkasse Leipzig. Er machte deutlich, dass Europa mehr sei als eine finanz- und wirtschaftspolitische Zweckgemeinschaft sei: „Europa ist ein gemeinsamer Raum des Vertrauens. Und in diesem Sinne eine Wertegemeinschaft, die sich nicht abschließt, sondern als offene Gesellschaft ein Angebot macht für Demokratie und Meinungsfreiheit, für Vielfalt und ein friedliches Miteinander.“ Dass sich Geschichte nicht wiederholt, sei eine banale Erkenntnis: „Aber wir müssen uns fragen: Wiederholen sich Fehler und Verhaltensmuster?“ Torsten Bonew, Ersterr Bürgermeister und Beigeordneter für Finanzen der Stadt Leipzig erinnerte an die aktuellen Herausforderungen für Politik und Gesellschaft: So scheine innenpolitisch der Grundkonsens über den Wert der Demokratie heute weniger selbstverständlich als noch vor ein paar Jahren, außenpolitisch würden bewährte Bündnisse infrage gestellt. Entsprechend dankte er den Stiftungen der Sparkasse Leipzig, dass sie „Raum für die notwendige Diskussion und Reflexion bieten“.

Dieser Raum wurde von den etwa 200 Gästen aus Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Medien mit großem Engagement genutzt: „Ich bin begeistert und dankbar für die lebendige und vorwärtsgerichtete Diskussion nicht nur zum Abschluss des Symposiums, sondern über beide Veranstaltungstage hinweg“, erklärte Stephan Seeger, Direktor Stiftungen der Sparkasse Leipzig: „Dies gibt mir, aber sicher auch unseren Gästen die Zuversicht, dass das Projekt eines gemeinsamen Hauses Europa eine Zukunft hat.“

Die Stiftungen der Sparkasse Leipzig hatten das Ende des I. Weltkriegs 1918 zum Anlass genommen für eine zweitägige Veranstaltung am 19. und 20. Oktober 2018, in deren Mittelpunkt die Diskussion über Lehren und Konsequenzen aus den kriegerischen Auseinandersetzungen der Vergangenheit für ein in Frieden und Freiheit geeintes Europa der Zukunft stand. Die Schirmherrschaft hatten Anne-Marie Descôtes, Botschafterin Frankreichs in Deutschland, und Michael Kretschmer, Ministerpräsident des Freistaates Sachsen, gemeinsam übernommen.

Mit einem festlichen Konzert, bei dem das Leipziger Symphonieorchester Beethovens 7. Sinfonie aufführt, geht die Veranstaltung am heutigen Samstagabend zu Ende. Mit der 7. Sinfonie wird der historische Bogen zurück zur Völkerschlacht gespannt, die vor 205 Jahren in der Region um Leipzig geführt wurde. 2018 jährt sich zudem der Beginn des 30-jährigen Krieges. Die Veranstaltung wurde von der Medienstiftung der Sparkasse Leipzig, der Kultur- und Umweltstiftung der Sparkasse Leipzig sowie der Sparkassenstiftung für die Region Torgau-Oschatz gemeinsam organisiert.


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